Kleiner Stern – Teil 1
Ein weiterer unerbittlicher Winter wollte mal wieder nicht enden. Obwohl auch dieser bereits seit Monaten überfällig war, wurde sein tosendes Wüten täglich sogar noch ein wenig schlimmer. Ganz so, als ob er es sich hier auf Dauer gemütlich machen wollte, grollte seine frostige Wildheit unablässig über eine geschundene, mittlerweile uralte Erdoberfläche, auf der nahezu alles bedeckt war von einer gigantischen Stadt. Einem unbegreiflichen, in vielen Jahrhunderten gewachsenen Moloch. In dem jetzt eisiger, mit glitzernden Schneeflocken durchwirkter Wind stetig durch die verwinkelten Straßenschluchten heulte, dabei wie rasend gegen schützende Mauern drückte und an den arg strapazierten Nerven ihrer Bewohner zerrte.
Einer davon war Lesandor Thalen, ein junger Arbeiter der Klasse C, dem es schon seit Langem reichte. Dennoch stand er auf dem überdachten Balkon seines winzigen Appartements und trotzte widerwillig dieser beharrlichen Sturmfront. Zwar dick in seine wärmste Kleidung eingepackt, aber dessen ungeachtet am gesamten Körper heftig zitternd.
Allerdings nicht vor Kälte, die Lesandor im Grunde kaum wahrnahm. Sondern infolge seines zermürbenden Kampfes, gegen den ständig in ihm wütenden Hass.
»Verfluchtes Drecksreich!!!«, brüllte er daraufhin völlig unerwartet in die hell erleuchtete Nacht.
Mist, habe ich das eben etwa wirklich geschrien, dachte Thalen nach diesem Ausbruch fassungslos und schüttelte entsetzt seinen kahl rasierten Kopf.
Selbst in seiner gegenwärtigen, äußerst desolaten Verfassung, begriff Lesandor, dass er gerade ein ziemlich unnötiges Risiko eingegangen war. Denn unter seinen unzähligen Nachbarn, die diese recht heruntergekommene Absteige mit ihm teilten, gab es eine Menge willige, scheinbar völlig schlafresistente Denunzianten.
»Ach, egal …«, entschied er sich letztendlich nach kurzer Überlegung.
Schließlich brauste es laut genug. Seine Stimme hatte garantiert keiner vernommen. Nein, die wirkliche Gefahr beschränkte sich klar auf die Spitzenbeamten des Planetaren Bundes.
Nur diese Bestien sollten mir wirklich Sorgen machen, wurde ihm erschrocken bewusst.
Also schlug er sich mit aberwitziger Dringlichkeit in sein schmales Gesicht. Gnadenlos mit der geballten Faust, die sein Gehirn durchschüttelte und gleichzeitig den Kieferknochen schmerzhaft krachen ließ. Ohne Unterbrechung folgte zuerst ein zweiter links, anschließend der dritte Hieb, nochmals rechts.
Lesandor regulierte mit dieser übertrieben brutalen Methode schnellstmöglich die Intensität seiner aufgebrachten Empfindungen und zwang sie dadurch erneut unter seine ersehnte Kontrolle. Genauso wie er es seit der Gründung des Psychors vor etwa fünf Jahren notgedrungen fast täglich machte.
Natürlich bekam er auf diese Weise seinen flammenden Groll niemals vollständig oder gar nachhaltig in den Griff, sondern mäßigte ihn höchstens routiniert. Jedenfalls würde sein qualvoll erprügelter Zustand ganz sicher ausreichen, der Aufmerksamkeit dieser ständig präsenten Schnüffelbehörde zu entgehen. Bislang war es ihm zumindest stets geglückt.
Erleichtert seufzte Thalen abschließend, da er es aus dem Gröbsten immerhin herausgeschafft hatte, und lehnte sich auf das Geländer vor ihm. Sofort schweifte sein Blick über einen verwahrlosten, jedoch weiterhin betriebenen Raumhafen, der seinen gegenwärtigen, leicht eingeschränkten Sichtbereich vollständig ausfüllte.
Wie zu jeder Tages- und Nachtzeit herrschte dort ungemein rege Betriebsamkeit. Ein rundweg emsiges Landen oder Starten verschiedenster Containerschiffe, deren computergesteuerte Monotonie recht ermüdend auf Lesandor wirkte. Bedauerlicherweise wies sie ihn zugleich – sehr aufdringlich – auf etwas anderes hin.
In wenigen Stunden durfte er dort, voller im Schlaf aufgetankter Produktivität, zu seinem langwierigen Schichtbeginn auftauchen. Allein die Erinnerung an diese alltägliche, gleichwohl zutiefst verabscheute Banalität reichte aus, um seine fast chronische Verzweiflung von Neuem in ihm geifern zu lassen.
Oh Mann, das war ein Fehler, fiel ihm leider erst viel zu spät ein.
Umgehend war er neuerlich an seinem düsteren Ausgangspunkt angelangt, aus dem er sich erst so mühevoll befreit hatte.
»Ich halte das alles einfach nicht mehr aus …«, flüsterte er enttäuscht und überraschte sich nun absolut verärgert damit, wie schnell ihn zusätzlich diese durchdringende Traurigkeit erfüllte.
Ferner etwas, dass ihn fortwährend heimsuchte und seit seiner Kindheit ein erstaunlich treuer, freilich besonders unerwünschter Begleiter geworden war. Seine vorher derbe behütende Hand streichelte nach diesem Rückfall unwillkürlich über seinen glatten Schädel und spendete ihm zur Abwechslung einmal eine tröstende Berührung. Die er sich sonst außerordentlich selten gewährte.
Damit erwärmte er zwar augenblicklich sein verhärtetes Gemüt, indessen bloß für einen kurz wahrnehmbaren, enorm schnell vergangenen und vergessenen Moment.
»Dann beende diesen Scheiß endgültig!«
Zum ersten Mal formulierte er seinen seit Längerem gefassten und übertrieben radikalen Entschluss mit gebieterischer, trotzdem angestrengt beherrschter Stimme. Thalen wollte ihn diesmal schnellstens in die Tat umsetzen. Und zwar bevor ihm abermals eine plausible Ausrede oder gar Entschuldigung einfiel, die er akzeptieren konnte.
Aus, vorbei, hinab in die Dunkelheit – in das lang ersehnte schwarze Vergessen, frohlockte es ausdruckslos in ihm.
Irgendwie verspürte Lesandor so etwas wie Erlösung, als er seinen nunmehr federleichten Fuß hob, um ihn über das Balkongeländer zu schwingen.
»Hallo«, sprach ihn völlig unerwartet eine verblüffend freundlich klingende, sein Nervensystem andererseits außergewöhnlich strapazierende Stimme aus dem Inneren seiner Wohnung an.
Überaus perplex fror er in seiner Bewegung ein. Wahrscheinlich bot er im Augenblick einen sehr komischen Anblick. Obwohl niemand lachte.
Spring, spring auf der Stelle, du verblödetes Arschloch, schoss es ihm simultan verlangend durch den Kopf.
Trotz allem tat Thalen es diesmal nicht, sondern senkte stattdessen langsam sein Bein. Als zur selben Zeit sein Verstand nach dem ersten Schock den Betrieb neuerlich aufnahm, fing er sogleich aufgebracht an, sich für seine unkontrollierbaren Ausfälle zu verfluchen. Letztendlich würden sie ihm – ganz nebenbei – geradewegs seine physische Freiheit kosten.
Weil ja versuchte Selbsttötung, gleichermaßen der schlichte Gedanke daran, eine strafbare Sünde war, wie er unglücklicherweise allzu gut wusste. Angestrengt schluckte er seine trockene, irgendwie klumpige Resignation hinunter. In der gleichen Sekunde breitete sie sich als spröde Furcht unaufhaltsam in seinem Magen aus und ließ ihn sachte vibrieren.
Sehr langsam, fast wie in Zeitlupe, drehte er sich kurz darauf um. Im selben Atemzug hob er ganz vorsichtig seine Arme, um die erwartete Verhaftung nicht schmerzvoller zu machen, als sie ohnehin sein würde. Parallel dazu stellte er sich körperlich auf die bereits öfters durchlittene, ausgesprochen erbarmungslose Prozedur ein.
Auf jeden Fall konnte er dem Ganzen diesmal etwas Positives abgewinnen: Sein vorläufig betäubter Selbsterhaltungstrieb erwachte und stellte sich beruhigt der beträchtlichen Herausforderung. Auf diese Weise verhinderte er effektiv seine Kapitulation und brachte den unbarmherzigen Befehl, der weiter sehnsüchtig nach der finalen Flucht kreischte, notdürftig zum Verstummen.
***
Ralissan Nolder, Psybegabte der Alphastufe, kniete im Mittelpunkt ihres fensterlosen, runden und vollkommen leeren Ruheraumes, dessen sterile Reinheit schwach von den glatten Wänden beleuchtet wurde. Bloß eine massive Sicherheitsschleuse, der sie den Rücken zugewendet hatte, blieb dunkel.
Regungslos verbrachte Ralissan so ihre spärliche Freizeit und erholte sich demütig von den täglichen Pflichten, indem sie laut betete. Erst als sie am Höhepunkt dieser inbrünstig ausgestoßenen Litanei angelangt war, bewegte sich ihr komplett verhüllter Körper sogar ein wenig. Sie hob ihren Kopf, um zur Decke emporzublicken.
Dabei verrutschte die Kapuze ihrer bequemen dunkelblauen Robe. Aber da Nolder sie, wie bei den Talentierten üblich und erwünscht, tief über ihr Gesicht gezogen hatte, blieb es gleichwohl weiterhin verborgen. Oder zumindest der Helm ihrer Vollkörperpanzerung, die sie bei der Weihezeremonie angelegt hatte.
Dankbar beendete die Alpha dann diese Lobpreisung an ihren Gott Marandeus und nahm erneut ihre alte Position ein. Sofort begann sie, sich auf den bald bevorstehenden Einsatz vorzubereiten. Diesmal sollte Ralissan ein Kommando der Ratswächter unterstützen, das um die Hilfe des Psychors ersucht hatte.
Sie analysierte dafür alle taktischen Optionen, die ihr zur Verfügung standen, und beendete diese primäre, allerdings höchst banale Aufgabe recht übereilt. Prompt nutzte Nolder die verbliebene Zeit noch sinnvoll, um ihren exzellent trainierten Geist schweifen zu lassen. Hinein in die zunächst trübe Finsternis, der nur von Begabten bewusst erreichbaren Psyebene, wo ihr sämtliche Einwohner Thain Marandeus, der Hauptstadt des Planetaren Bundes, in ihrer wahren Form erschienen, als unterschiedlich hell aufleuchtende, verschiedenfarbige Seelenfeuer, die jetzt überall ihren uneingeschränkten und außergewöhnlich empfindsamen Wahrnehmungsbereich illuminierten.
Durch dieses spirituelle Zentrum des menschlichen Gottesreiches, das aus den lebenden Lichtquellen ihrer Bewohner nachgeahmt wurde, konnte sich die Alphabegabte außerdem mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit bewegen. Natürlich begann sie gleich mit ihrer Suche. Verdächtige Individuen sollten ihr keinesfalls entgehen.
Gegenwärtig waren viele dieser mentalen Strukturen zwar reglos und einfarbig, da schließlich die meisten Menschen schliefen. Dennoch entdeckte sie immer wieder einmal die eine oder andere interessante, höchst geschäftige und in verdächtigen Farbnuancen erscheinende Ausnahme. Ohne zu Zögern überprüfte Nolder diese Subjekte auf verbotenes Gedankengut.
Ein paar Mal gelang es ihr sogar, einige Verbrecher zu erfassen, die sich bei eingehender Betrachtung als eher unbedeutende Kleinkriminelle entpuppten. Trotzdem war das Ralissan im Grunde völlig egal, weil sich selten unbegreifliche Abscheulichkeiten zeigten. Der Ratsdienerin indes – zwar irgendwie merkwürdig schale – jedoch einzigartige Befriedigung verschaffte.
Während der jeweiligen Erkundung gab sie beiläufig ihre aufgenommenen Erkenntnisse mit allen relevanten Details verbal in den, ihrem Chor jederzeit zur Verfügung stehenden, Zentralcomputer ein. Der verarbeitete anschließend in Sekundenbruchteilen jegliche Information und filterte sie nach den wesentlichen Tatbeständen.
Am Ende übertrug der Rechner alle erforderlichen Angaben in wenigen Augenblicken den zuständigen Ratsbehörden. Diese mussten danach lediglich den genauen Wohnort ermitteln. Was wegen der unzähligen, miteinander verbundenen Erfassungsstellen, von denen ausnahmslos jeder Bürger registriert und verwaltet wurde, keine großartige Hürde mehr darstellte.
Dieser ebenfalls unwirklich, wenige elektronische Atemzüge dauernden Prozedur folgten die vorgegebenen gesetzlichen Verfahrensweisen mit all ihren teilweise überaus weit reichenden, doch gerechtfertigten Konsequenzen. Nolders Berufung erfüllte sie die nächste halbe Stunde, bis sich letztendlich ihre innere, ziemlich lästige Uhr meldete.
Sie machte sich unterbewusst darauf aufmerksam, dass es Zeit für ihren eigentlichen Auftrag geworden war. Die beiden leitenden Offiziere der Eingreiftruppe erwarteten Ralissan bestimmt schon ungeduldig zur vorbereitenden Lagebesprechung. Ungeachtet dieser Tatsache entschloss sich die Alphabegabte, ihre Psyche ein letztes Mal treiben zu lassen.
Dies Verhalten bewies ihr freilich sehr deutlich, dass sie bereits erste Anzeichen beginnender, von ihrem Verhaltenskodex ausdrücklich verbotener, Sucht nach dieser einzigartigen Erfahrung zeigte. Ihre unangenehme Einsicht verdrängte die Beamtin hingegen schnellstmöglich und höchst erfolgreich aus ihrem Bewusstsein.
Genauso wie es ihr Vorgesetzter Holmbrok auch andauernd übersah. Solange die Talentierte gleichzeitig ihren vorgesehenen Zweck erfüllte, also einwandfrei funktionierte, gab es keine weiteren Fragen mehr. Und das tat sie. Flugs widmete sie ihre volle Aufmerksamkeit weiter ausschließlich ihrem Erkundungsflug.
Ursprünglich wollte Nolder nach kurzer Zeit unterbrechen und sich schleunigst zu der Einheit Ratswächter aufmachen, als sie plötzlich etwas äußerst Bemerkenswertes in ihrem inneren Sichtbereich wahrnahm. Ein befremdendes, niemals zuvor erblicktes Muster blitzte in der Nähe auf.
Es weckte auf der Stelle ihre immense Neugier, die sie inzwischen ungemein eilig befriedigen musste. Genau aus diesem Grund hastete sie total unvorbereitet los. Dieser grobe Fehler der üblicherweise vorbildlichen Psybegabten verstieß gegen nahezu alle Grundregeln ihrer Behörde, die sie normalerweise im Schlaf beherrschte.
Ralissan bekam jedenfalls nicht mehr die Gelegenheit dazu, ihren eben erst bemerkten Leichtsinn zu korrigieren. Denn durch ihre Annäherung wurde unvorbereitet ein erster, von ihr keineswegs so beabsichtigter Kontakt eingeleitet. Blitzschnell flutete sich Nolders vollkommen offengebliebener Verstand mit dem herrlichen, der Ratsdienerin sonnenhell erscheinenden, Strahlen ihres Gegenübers, das die immaterielle Präsenz der Alpha nach wenigen Momenten restlos verstörte, indem es den seit langem vertrauten Psyraum auslöschte. Ihn einfach radikal aus ihrer Wahrnehmung verbrannte und zum Schluss nichts anderes als ein tosendes Feuer übrig ließ.
Die Ratsdienerin, mit einem Mal absolut hilflos, verlor vollständig ihre Orientierung. Darum stürzte sie übergangslos ins Nichts. Ohne darüber nachzudenken, erfüllt mit horrender, niemals zuvor auf diese Weise erlittener Verzweiflung, unterbrach sie rasch, bestenfalls rein instinktiv handelnd, die Verbindung und löste sich befreit aus ihrer Misere.
Diese ihr gerade widerfahrene, so unglaubliche Fremdartigkeit erschütterte die Beamtin, trotz ihrer Trennung, ferner bis ins Mark. Desgleichen konsternierte sie die Tatsache, dass sie mit ihrem einfältigen Erfassungsversuch und dem darauf folgenden Rückzug im Endeffekt unverzeihliche Anfängerfehler begangen hatte. Ihrer eigentlich nicht würdig.
Erst nach einigen Minuten bewältigte sie die letzten Reste ihrer Verblüffung über diese extrem verwirrende, irgendwie kindlich und zutiefst unschuldig wirkende Reinheit, die ihr gerade offenbart worden war. Maßlos beeindruckt konnte sie ihre Entdeckung irgendwie nicht richtig begreifen. Obwohl Ralissan mit ihren dreiundzwanzig Jahren und als Alphabegabte bereits eine der mit Abstand erfahrensten Ratsdienerinnen des gesamten Psychors war. Etwas wie diese eben erfühlte Form war ihr bisher niemals untergekommen. Nolder wurde immer klarer, dass es sich hier eindeutig um etwas Unmenschliches gehandelt hatte.
Bei Marandeus, begriff sie daraufhin in enorm zwiespältiger Stimmung, nun ist es also geschehen.
***
Als Lesandor seine Drehung mit hinter dem Kopf verschränkten Händen beendet hatte, erblickte er etwas absolut Irritierendes. Er blinzelte einige Male ungläubig. Denn kein Ratsdiener in den dunkelblauen Roben des Psychors stand in seiner kleinen Wohnung dicht hinter der offenen Balkontür. Auch ihre gewalttätigen Sicherheitskräfte, die diese Talentierten gewöhnlich umschwirrten wie Schmeißfliegen ein Stück Kot, waren erstaunlicherweise nirgendwo auszumachen, sondern nur ein kleines Mädchen, vielleicht acht, höchstens zehn Jahre alt. Und er machte mit seinen erhobenen Armen vermutlich einen unglaublich dummen Eindruck auf sie.
Zumindest prustete die Kleine plötzlich herzhaft los und verbreitete sofort eine ausgesprochen lebendige Freude, die Thalen ebenfalls auf der Stelle ansteckte. Nach einer Weile flossen ihm bereits Tränen über die Wangen. Verzückt genoss er dies gemeinsame, unbeschreiblich befreiende Gelächter. Vor allem, weil er es auf diese Art schon seit Ewigkeiten nicht mehr hervorgebracht hatte. Irgendwie wurde ihm erst jetzt deutlich bewusst, wie sehr er diese erfüllenden Gefühlsausbrüche vermisst hatte. Während er sich daher noch weiter ausschüttete, endete sie langsam und begann, ihn außerordentlich wissbegierig anzusehen.
***
»Was sagen Sie da, Alphabegabte Nolder? Das kann doch gar nicht möglich sein! Wir erkunden das Universum schließlich seit Jahrhunderten und haben noch nie eine andere vernunftbegabte Lebensform auf unseren Reisen entdeckt. Und nun wollen Sie einen Besucher – ach was, Eindringling gespürt haben, der unsere Reichsmetropole infiltriert? Bei Marandeus, welch Blasphemie!«
Ralissans direkter Vorgesetzter und Förderer, Hoher Rat Deggard Holmbrok, der Begründer des Psychors, lief vor rechtschaffenem Zorn rot an. Gleichzeitig strich er sich jedoch nachdenklich mit den Fingern über sein markantes Kinn. Damit lenkte er die Erregung seiner Ungläubigkeit auf die Lösung dieses Problems.
Seine schweigsame Grübelei schien freilich nichts zu bringen. Denn Holmbroks normalerweise völlig ebenmäßiges und gänzlich altersloses Gesicht verwandelte sich langsam in eine Furcht einflößende Fratze. Seine anschwellende Wut wurde zusehends monströser und unterminierte inzwischen seine alltäglich zur Schau gestellte, beängstigend gottesfürchtige Besonnenheit.
Somit zeigte er der anwesenden Alpha zwar weitaus mehr von seiner wahren Natur, als ihm eigentlich Recht sein konnte. Mittlerweile waren Deggard solche Feinheiten allerdings ausgesprochen egal. Er verzichtete einfach achtlos auf diese aufgezwungene Selbstbeherrschung und verlor schnell die Kontrolle.
»Sie haben wohl die heiligen Prophezeiungen und Schriften unseres Herrn vergessen. Wir sind das auserwählte Volk – Gottes gesegnete Rasse! Die Menschheit soll dieses glaubensleere Universum besiedeln und die makellose Helligkeit unseres Bekenntnisses – unserer elementaren Zivilisation über alle bewohnbaren Planeten verbreiten. Wie können Sie es nur wagen!«
Holmbroks Stimme war während seines Ausbruchs stetig lauter geworden. Am Ende schrie er ungehemmt und versprühte aufgebracht seinen galligen Speichel. Unterdessen funkelten eisblaue Augen herausfordernd in Richtung des mit Kapuze verhangenen Helms seiner fähigsten Psybegabten.
»Verzeiht meine Wortwahl, Herr«, unterbrach Ralissan leise die aus aufrechtem Glauben ausgestoßene Tirade ihres Behördenleiters.
»Trotzdem sind meine Empfindungen eindeutig.«
Der Hohe Rat wusste leider bloß all zu gut, dass sich seine Favoritin niemals irrte. Obwohl er die alten Wahrheiten, von denen er immerhin felsenfest überzeugt war, nicht sofort aus seinem Bewusstsein verbannen konnte. Deggard musste sich zunächst mühevoll auf diese neue, äußerst bedrohliche Situation einstellen.
Die vollkommen unbeeindruckt dastehende Beamtin nahm derweil langsam sein Umdenken wahr. Sie konnte fast sehen, wie er sich zwang, diese Unmöglichkeit notdürftig zu akzeptieren. Zwar hatte Nolder von Anfang an erwartet, dass er ihre momentane Lage beileibe nicht als gottgewollte Chance begreifen würde. So wie sie es, seit ihrem bisher einmaligen und viel zu kurzen Kontakt auch tat. Dafür war er viel zu fanatisch.
Selbstverständlich hatte der Hohe Rat aus diesem Grund ausschließlich die ernst zu nehmende Gefahr für die Grundfesten ihrer bis heute stabilen Ordnung erkannt. Eine annähernd drastische Bedrohung war ihm niemals zuvor untergekommen. Deshalb durfte sie nicht unterschätzt, keinesfalls ignoriert und vor allem niemals geduldet werden.
»Ich vertraue Ihren Kräften natürlich, Ralissan… Hm, also eine außerirdische Intelligenz? Diese wahrhaftig befremdende Vorstellung erschüttert mich zutiefst.«
Die Flügel seiner großen Nase bebten weiterhin beharrlich und Holmbroks eigentlich volle Lippen pressten sich zu einer dünnen, kaum mehr wahrzunehmenden Linie zusammen. Dennoch erlangte er langsam wieder seine normale Hautfarbe zurück.
»Sie wissen ja, dass ich die letzte Expedition nach Ephestos persönlich geleitet habe. Mir begegneten dort ausnahmslos niedere Lebensformen, die sich ja ebenfalls recht klaglos in ihre, ihnen von unserem Schöpfer zugedachte Rolle gefügt haben.«
Deggard ließ seinen alten Triumph abermals zufrieden an sich vorüberziehen. Wodurch sich sein Antlitz erhellte und weiter entkrampfte.
»Mir erging es da ganz genauso wie all unseren hochgeschätzten Vorfahren, die gleichfalls lauter geistesarme Tiere auf den anderen angetroffen haben. Deshalb fällt es mir trotz allem so enorm schwer, Ihnen zu glauben, dass es da draußen etwas der menschlichen Rasse sogar halbwegs Ebenbürtiges geben soll … Gott möge uns behüten.«
Während seines neuerlichen Monologs setzte Deggard sich leise aufstöhnend in seinen wuchtigen Sessel. Eine Prozedur, für die er ein wenig länger brauchte – mehr seinem wahren Alter entsprechend, das von vortrefflicher plastischer Chirurgie und den eindrucksvollen Errungenschaften der chemischen Industrie grandios verschleiert wurde.
Am Anfang ihres Gesprächs hatte er seinen hageren, hochgeschossenen Leib wutentbrannt aus ihm aufspringen lassen, mit morschen Knacken und Krachen uralter Knochen. Eine recht unbedachte Zuschaustellung jugendlicher Agilität, die er jetzt sichtlich bereute, wie Nolder leicht schadenfroh bemerkte.
Jedenfalls ließ sich der Hohe Rat einstweilen nichts mehr anmerken. Er strich überdies seelenruhig seine langen, glatten Haare, die seinen Kopf seit Jahren voll und silbern bedeckten, nach hinten. Anschließend band er sie sorgfältig mit einem dunkelblauen Tuch zusammen.
»Gut, Ralissan… Vergeben Sie mir meine Vergesslichkeit. Ich verstehe derweil selbst nicht mehr, warum ich ihre Information so vehement abgestritten habe. Alphabegabte sind immerhin unfehlbar. Gerade ich sollte das zwischenzeitlich begriffen haben. Letztlich habe ich Sie und ihresgleichen ja erst geschaffen …
Deswegen werde ich eine dringliche Ratsversammlung einberufen. Halten Sie sich in einer Stunde bereit. Sie werden dort berichten.«
Mit einem flüchtigen Nicken entließ Holmbrok seine Beamtin. Dann hob er rasch, überaus herrisch seine Hand und unterbrach ihre Verbeugung.
»Übrigens, die Strafe wegen ihres unerlaubten Fernbleibens entfällt. Die mir vorgetragenen Fakten haben es gerechtfertigt.«
Damit war sie schließlich endgültig entlassen.
»Danke, Herr.«
Sie verneigte sich diesmal vollständig und verließ sein Büro. Tief empfundene Erleichterung erfasste die Ratsdienerin augenblicklich, als sich die Tür automatisch hinter ihr verschloss. Wie immer hatte es ihr körperliche Qual bereitet, das Wesen des Hohen Rats dermaßen lange ertragen zu müssen.
Seine frömmelnde Ignoranz und intolerante Verbohrtheit trafen die Alpha immer wie ein Hammerschlag, der stets heftige, lang anhaltende Kopfschmerzen verursachte. Zudem war es dummerweise nicht allein Deggard, von dem sie diese pochenden Leiden beschert bekam, wie ihr bedauernd einfiel. Die Alpha verabscheute diese Ratstreffen.»Meine Fresse, was für ein Glück …«, flüsterte Lesandor leise, als sein befreiendes Gelächter ebenfalls langsam ausklang.
Anschließend gönnte er sich umgehend wieder ausreichend Luft. Er atmete sofort mehrmals tief und absolut erleichtert durch, ehe ihm noch einmal dieses nette »Hallo« von vorhin einfiel. Mittlerweile begriff Thalen irgendwie überhaupt nicht mehr, wie es zu diesem äußerst peinlichen Irrtum hatte kommen können.
Seltsam, wie wenig gesunder Menschenverstand einem übrig bleibt, wenn man gerade dabei ist, Selbstmord zu verüben, dachte er sarkastisch und musste fast ein weiteres Mal losprusten.
Sein Drang dazu erstarb aber schnell, da sich Lesandor einige recht interessante, vielleicht sogar ziemlich wichtige Fragen aufdrängten: Was wollte die Kleine so spät bei ihm? Es war doch schon weit nach Mitternacht. Mussten Kinder um diese Zeit nicht bereits längst im Bett sein? Außerdem – wie war sie in seine Wohnung gekommen, die er immerhin doppelt verriegelt hatte?
Obendrein fiel ihm eben verblüfft auf, dass sie vollkommen nackt war. Während Thalen sie danach das erste Mal richtig betrachtete und endlich wirklich wahrnahm, fasste er sich ungläubig an die Stirn. Seine freudige Erleichterung hatte ihn scheinbar erblinden lassen. Bislang war ihm jedenfalls entgangen, wie andersartig dies kleine Mädchen aussah.
Es musste wohl mit der eher spärlichen Beleuchtung seines Zimmers zusammenhängen, das ihm inzwischen eigentlich gar nicht mehr so düster vorkam. Trotzdem fiel ihm erst in diesem Moment auf, dass die Kleine feuerrot war. Und es schien ihre tatsächliche Hautfarbe zu sein, nicht nur eine aufgetragene Bemalung oder Tätowierung. Dafür wirkte es einfach zu natürlich.
Schließlich begriff er auch überrascht, warum seine Unterkunft etwas heller erschien. Der Grund dafür waren ihre schneeweißen Haare, die sie zu einer wilden Frisur geformt hatte. Fasziniert beobachtete er kurz diese zahlreichen, sich zum Ende hin verjüngenden und aus vielen, verschieden dicken Knoten gebundenen Stränge.
Beliebig geschwungen standen sie kreuz und quer von ihrem Kopf ab. Diese verwirrende Pracht kam Thalen erstaunlicherweise so vor, als umspielte sie ihr Haupt wie die Korona einen Stern. Vor allem weil es augenscheinlich der Fall war.
»Unglaublich …«
Nach seiner Entdeckung musste er sich regelrecht dazu zwingen wegzuschauen. Dieses herrliche Wabern hätte ihn ansonsten hypnotisiert. Hastig richtete Lesandor daraufhin seine volle Aufmerksamkeit auf ihr feines, stupsnasiges Gesicht, in dem ein kleiner Mund freundlich lächelte. Das Mädchen machte insgesamt einen überaus friedfertigen, ausgesprochen gütigen Eindruck.
Was wahrscheinlich hauptsächlich an ihren auffälligen, unbeschreiblich bezaubernden Augen lag, die tiefschwarz wie Kohlestücke waren. Aber dennoch in einem außergewöhnlich lebensfrohen, sein Innerstes zutiefst erfüllenden Glanz erstrahlten. Lesandors Kinnlade klappte herunter. Baff und schlicht sprachlos starrte er sie an.
Dann begann er leicht zu schwitzen. Inzwischen spürte er nämlich deutlich eine angenehme Wärme, die von ihr ausging und im Grunde vergleichbar war mit einem wundervollen Sommertag, dessen sonniger Enthusiasmus die düstere Unerbittlichkeit dieser frostigen Nacht endgültig vertrieb.
Sein höchstwahrscheinlich dämlicher und total verdutzter Gesichtsausdruck löste bei dem Kind erneut ein relativ frech klingendes Kichern aus, das Lesandor auf der Stelle mit seiner Unbefangenheit ansteckte und ihn gleichfalls zu einem breiten Grinsen verleitete. Er konnte gar nicht anders.
Gleichzeitig überwand er seine Verwunderung einigermaßen und stotterte: »Ha… Hallo … Wer b… bist … Was bist du?!«
***
Ralissan begab sich schnellstmöglich zurück in den runden Ruheraum, der für sie mittlerweile ein vertrautes Zuhause geworden war. Dort kniete sie an ihrem gewohnten Platz nieder und versuchte, noch einmal die Spur des Fremden aufzunehmen. Aber es gelang ihr, trotz einiger aufmerksamer Versuche, einfach nicht mehr.
Wie sehr sie doch ihre kopflose Flucht aus der Psyebene bereute. Denn ohne eine psychische Notmarkierung, die in genau solch einen für sie früher nur rein theoretischen Fall, dringend erforderlich gewesen wäre, waren ihre Erfolgsaussichten ziemlich gering. Ein zweites Mal würde sie den Fremden wohl nicht bloß durch puren Zufall entdecken.
Die Psybegabte unterbrach daraufhin ihre Suche. Gleichwohl war sie sich sicher, dass sie später, mit vom Hohen Rat gewährter Unterstützung, bestimmt erfolgreicher sein würde. Aufgekratzt und viel zu erschöpft für ihre üblichen Beschäftigungen, nahm sie sich nun die Muße zum Nachdenken.
Übergangslos kam ihr somit Holmbroks langwieriger Monolog in den Sinn. Wenn sie ehrlich war, hatte ausschließlich der Name Ephestos einiges in ihrem Verstand ausgelöst und ihr etwas bedeutet. Den nebensächlichen Rest verdrängte sie radikal aus dem Bewusstsein.
Ihre Erinnerungen an diese bemitleidenswerte siebte Welt, die Deggard vor vier Jahrzehnten erobert und über zwanzig Jahre lang, mit grenzenloser Verachtung für jegliches nichtmenschliche Leben, als Gouverneur geschunden hatte, ließen sie inzwischen unbestreitbar verzagen. Egal, wie sehr sich die Alpha auch bemühte, es half ihr wirklich nichts darüber hinweg.
In der Zwischenzeit beunruhigte sie ihre mentale Zwangslage beträchtlich und die Ratsdienerin wurde nervös. Ein Gefühl, das ihr total zuwider war. Sie verabscheute es richtiggehend. Abrupt versuchte sie, diese schmerzhaften Gedankengänge zu unterbinden.
»Herr, ich bitte um deine Gnade …«
Derweil wurde ihr bebend bewusst, welcher üblen Ketzerei sie sich gerade schuldig gemacht hatte.
»Hoch gepriesener Marandeus, vergib mir meine Sünden«, flehte die Alpha plötzlich unterwürfig.
Wer seine weltlichen Herren verunglimpfte, beleidigte gleichzeitig ebenfalls Gott, da Marandeus höchstpersönlich über die Schicksale aller Menschen gebot. Wie konnte sie es überhaupt wagen, sich und ihre gesamte ehrenvolle Kaste der Talentierten mit diesen verwerflichen Rückblicken zu besudeln?
Sogar ihre aufrichtigsten Gebete, die sie demütig ausstieß, um von dieser ungemein beschämenden Häresie erlöst zu werden, blieben vergeblich. Vor allem, weil es Holmbrok vorhin gelungen war, diese ständig eiternde Wunde erneut aufzubohren. Gemächlich verbreitete sich seither ihr ätzendes, auf Dauer sicherlich tödliches Gift.
Nach einem kurzen Augenblick der Verzweiflung gelangte die Psybegabte jedoch zu dem Schluss, dass es eine Chance gab, sich davon zu befreien, indem sie ihrem Trauma, das ursächlich für diese Qual war, freien Lauf ließ. Also schlüpfte sie vorübergehend zurück in das kleine Mädchen mit den langen, blonden Zöpfen, deren fröhliche, himmelblaue Augen vor unbändiger Lebensfreude blitzten und die wie üblich ihr freches, stets unbeschwertes Grinsen zeigte. In dieser Form konnte es Ralissan gelingen, endlich wieder einen reinen Zustand zu erlangen und vorläufig mit ihrer Vergangenheit abzuschließen.
Sie war jetzt sechs Jahre alt und hielt aufgeregt die Hand ihres Vaters. Zusammen bestaunten sie glücklich die Parade zu Ehren des Kriegsherrn Deggard Holmbrok, der umjubelt und hofiert in die feiernde, gebührend siegestrunkene Heimat zurückgekehrt war. Als stolzer Streiter des Herrn, der ihr göttliches Reich um einen zusätzlichen Planeten erweitert hatte.
Nolder erinnerte sich außerdem genau daran, wie sie ihren Papa hinterher bedrängte, mit ihr in den nahe gelegenen Zoo zu spazieren: »Ach, bitte, bitte … Lass uns gleich die fremden Tiere gucken gehen. Ich will sie so gerne sehen!«
Schließlich willigte er ein und hob die Kleine sanft auf seine Schultern, damit sie tatsächlich etwas erkennen konnte. Und dann, als die Massen an den fremdartig aussehenden Wesen vorbei marschierten, diese bestaunten, anstarrten, auslachten oder mit Futter bewarfen, war dem Mädchen zum ersten Mal aufgefallen, dass sie eine jener Begabten war, von denen damals andauernd in den Holoprogrammen ausnahmslos auf jedem Sender berichtet wurde. Eine zutiefst Furcht einflößende Erkenntnis, die ihr ganz und gar nicht gefiel. Diese verstörende Angelegenheit entwickelte sich langsam zu einem regelrechten Albtraum, der sie grundlegend verändern und einen Teil von ihr dauerhaft zerstören sollte.
Zunächst verstopfte ihr die aufgeregte Menge, deren ungestüme, außerordentlich grobe Gedanken sie bis ins Mark erschütterten, den kleinen Kopf. Hauptsächlich mit Schadenfreude, Überheblichkeit, Arroganz, Hass, Triumph und Verachtung.
»Och, hört bitte auf, sie zu quälen …«, murmelte sie erschrocken.
Diese den Außerirdischen entgegen gebrachten Überzeugungen verstörten das Mädchen zwar gewaltig. Es gelang ihr allerdings bisher, nicht unwiderruflich zu verzweifeln. Sofort hielt sie sich krampfhaft ihre Ohren zu. Leider ohne den geringsten Effekt. Erst Ralissans nächste Handlung, die sie eigentlich schützen sollte, gab ihr endgültig den Rest.
Genauer gesagt begann es mit dem Versuch der Kleinen, sich klar auf einen einzelnen, möglichst vertrauten Punkt zu konzentrieren. Geradeso, wie es ihr damals in einer Kindersendung erklärt worden war. Der Moderator hatte behauptet, dass dies in solchen Situationen helfen würde, die Menge an Informationen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.
Darum probierte Nolder es arglos aus. Dieser schrecklichen Lärm – die übergroße, unaufhaltsame Flut an irren Eindrücken und wirrem Gedankenmüll – musste unbedingt von ihr beendet werden. Leider ging es furchtbar schief. Sie erwischte ausgerechnet die beiden Kreaturen in ihrer Zelle, welche sich regungslos, von unbändiger Angst erfüllt, aneinander klammerten. Nicht ihren Vater, wie ursprünglich von Ralissan geplant. Diese ungewollte Verbindung gab ihr einen tiefen Einblick in das überhaupt nicht abweichende Innerste der zwei Dargebotenen.
Alles, was die Kleine anschließend dort aufnahm und seinerzeit verstand, fraß sich vor bis zum Kern ihrer unschuldigen, jungen Seele. Vor lauter grenzenlosem Entsetzen verlor sie danach die Kontrolle über einige ihrer Körperfunktionen und pinkelte ihrem Erzeuger auf den neuen Anzug.
Dieser glotzte die Kleine anfangs recht ungläubig an, bevor er sie hastig von seinen Schultern hob, um mit ihr zu schimpfen. Als er dabei bemerkte, wie es um sie stand, vergaß er dieses Vorhaben. Stattdessen redete er beruhigend auf seine, unerwartet mit spastischen Zuckungen beginnende und ganz weit weggetretene, Tochter ein.
Freilich drang nichts davon zu ihr durch. Immerhin war sie abgeschaltet, innerlich wie tot. Bis dieser dunkelhaarige Junge, dessen tiefe Empfindungen selbst sie überschwemmten, genauso wunderbar wie ein befreiendes Gewitter lostoste. Gänzlich enthemmt brüllte er die Gaffer um sich herum an. Beleidigte und beschimpfte sie auf das Heftigste.
Seine Eltern, peinlich berührt und sich andauernd in alle Richtungen entschuldigend, zerrten ihn schlussendlich weinend von dem Schauplatz fort. Dennoch reichte es aus. Ihr heldenhafter Retter lenkte sie genügend ab und ermöglichte es Ralissan somit, sich zu guter Letzt von den geschundenen Gefangenen zu lösen.
Die Kleine verschloss danach intuitiv ihren Geist, während ihr Papa sie, seit einer Weile voller grenzenloser Sorge, sachte wiegte und zärtlich streichelte. Eine neugierige Menschenmenge, die das Mädchen dreist musterte und unverhohlen miteinander tuschelte, bildete sich unterdessen um die Beiden.
Genug davon, schloss die Alpha diese besonders kräftezehrende Tortur ab und wollte es zu Ende bringen.
Mit ihrer unbändigen Willenskraft zwängte sie ihre Kindheit wiederum tief hinab in die dunkelsten Abgründe ihres Verstandes, wo diese zwar weiter unbewältigt vor sich hinbrodelten, auf diese Weise andererseits vorübergehend von ihr abließen. Prompt wurde die Psybegabte vom Zentralcomputer informiert, dass der Hohe Rat sie bereits in zehn Minuten erwartete.
Leicht verärgert nahm sie diese kurzfristige Einberufung zur Kenntnis. Rasch richtete sie sich auf und vergewisserte sich, dass ihr kompletter Leib von der dunkelblauen Robe bedeckt war. Dank Marandeus gerechter Barmherzigkeit konnte Nolder wenigstens ohne von unwichtigen Nebensächlichkeiten erfülltem Haupt an der Versammlung teilnehmen,
Die Beamtin durfte sich momentan abermals ihren befriedigenden, ausgesprochen gottgefälligen Aufgaben stellen. Ganz ohne ihre jämmerliche und hassenswerte Traurigkeit, die sie viel zu oft bedrückte. Redete sich Ralissan zumindest ein. Nachdem sie aufbrach – der Qual entgegen.
***
Das Mädchen sah Lesandor weiterhin freundlich lächelnd an.
»Zuerst will ich mich entschuldigen. Ich wollte dich nicht so erschrecken. Tut mir wirklich leid. Dann zu deiner Frage. Ich bin das – äh, ein Besucher aus einer anderen Galaxie … Euer Planet hat mir unglaublich – mein Interesse geweckt. Denn ich bin auf einer … Oje – Forschungsreise … Ja genau, ich erkunde die Weite des Alls und das viele Leben überall.«
Die Kleine wirkte ganz aufgeregt, als sie ihm das erzählte, und klatschte am Schluss sogar vor aufrichtiger Begeisterung in die Hände.
»Oh, tatsächlich? Ist ja sehr interessant.«
Lesandor kam sich vor wie ein Narr, als er antwortete. Anschließend grinste er auch noch einfältig.
Mist, tadelte er sich daraufhin innerlich, da hast du schon mal eine außerirdische Intelligenz in deinem Zimmer stehen und dir fällt nichts Besseres ein.
Aber der Klasse C – Arbeiter war natürlich viel zu verwirrt von den Geschehnissen. Darum räusperte er sich verlegen.
»Du bist jedenfalls ziemlich klein – jung, passender gesagt. Und du reist durch den Weltraum? Ganz ohne Begleitung? Du bist doch alleine, oder?«
Eine Flotte fremdartiger Kriegsschiffe, die sich auf die Eroberung der Erde vorbereitete, geisterte bei dieser Ungewissheit durch seinen Verstand. Er verwarf diesen Gedanken jedoch sofort. Immerhin machte sie keinen kriegerischen Eindruck auf ihn, sondern eher einen unwahrscheinlich lebensbejahenden.
»Ja … Meine geliebte Mutter ist leider gestorben, und deshalb habe ich mich auf den Weg gemacht.«
Schlagartig wirkte sie gleichzeitig immens traurig und irgendwie gleichfalls voller tief empfundener Freude.
»Das ist echt traurig, Kleine … Ach, hast du vielleicht einen Namen? Ich bin Lesandor… Lesandor Thalen.«
»Entschuldige! Wie unhöflich von mir. Ich bin Arin – ähm, einfach nur Arin. Freut mich sehr, dich kennenzulernen, Lesandor. Und danke für den liebenswürdigen Empfang. Ich hatte vorhin eigentlich schon befürchtet, dass du mit irgendetwas – wahrhaftig Drängendem beschäftigt bist. Dabei wollte ich dich ehrlich nicht stören.«
Sie streckte ihre Hand aus.
»Das ist bei euch sicherlich üblich? Eine höfliche – tja, Begrüßungsgeste, hoffe ich zumindest?«
Das Mädchen blickte ihn fragend an und Lesandor schmunzelte. Ganz selbstverständlich wollte er die Hand ergreifen. Dennoch zögerte er einen kurzen Moment. Die Antipathie gegen alle Nichtmenschen, die ihm jahrelang von seiner Regierung eingeimpft worden war, steckte nahezu unauslöschlich in ihm. Obwohl er diese grausame Institution seit Langem unsagbar verachtete. Deshalb überwand er schließlich vollkommen überzeugt seine lächerliche, sein gesamtes Leben hindurch verordnete und absolut unbegründete Furcht.
»Ja, das tut man, wenn man sich vorstellt.«
Arin fühlte sich warm und angenehm an, was Thalen überraschte. Einen höchst irrationalen Augenblick lang hatte er nämlich schon befürchtet, der Kontakt würde ihn verbrennen und in Sekundenschnelle in einen erbärmlichen Haufen schwarzen Staubs verwandeln.
»Und du hast mich nicht gestört, bei nichts Wichtigem im Grunde. Mach dir darüber gar keine Gedanken«, fügte Lesandor am Ende dieses Rituals erklärend hinzu. »Ich bin übrigens ebenfalls irrsinnig glücklich darüber, dass wir uns getroffen haben, Arin! Herzlich willkommen auf der Erde.«
***
Durch ein riesiges, voll automatisiertes Portal betrat Ralissan die Große Ratshalle, den geistlichen und weltlichen Sitz der Zentralregierung, dessen gigantisches, kunstvoll ausgeschmücktes Rund sie immer noch so beeindruckte wie am Tag ihrer ersten Vorladung. Also betrachtete sie kurz diese von antiken Skulpturen überladenen Wände, auf denen Marandeus gesamter Lebensweg nachgebildet war. Bis hin zu seiner Offenbarung, wo er sich endlich als Gott der Menschheit zu erkennen gegeben hatte.
Doch unvermittelt wurde ihre andächtige Stimmung von leisen, sie jedoch überaus störenden Geräuschen unterbrochen. Diese inzwischen vertrauten Laute drangen aus dem Zentrum des Raumes herüber und stammten von zwölf aufwendig gestalteten, mit religiösen Darstellungen verzierten Thronen, die gerade ihre am Boden befindlichen Ruhepositionen verließen und nach kurzem behäbigen Flug in stabile Haltevorrichtungen auf der Oberfläche einer gerundeten, drei Meter in der Luft schwebenden Plattform einrasteten. In ihren Herrschersitzen erwarteten die Bewahrer des rechten Glaubens und Gebieter über den Planetaren Bund teilweise äußerst gereizt Nolders pünktliche Ankunft.
Darum ging die Psybegabte unverzüglich los. Auf ihrem Weg erfasste sie ganz beiläufig zahlreiche Seelenmuster elitärer Ratsgardisten, welche vor den altehrwürdigen Mauern ihre Positionen bezogen hatten. Anschließend richtete sich ihr innerer Sichtbereich unvermeidlich auf die auffälligsten Verzierungen dieses heiligen Ortes aus.
Über dem Sitz der Regierung hingen, bedeutsam von der dunklen Decke herab angestrahlt, sieben prunkvolle, teilweise schon uralte Banner. Das prächtige Symbol der Erde selbstverständlich größer als die anderen und in ihrer Mitte. Ganz am linken Rand befand sich der Neuzugang – Ephestos.
Nach einer Weile erreichte die Alpha den Hohen Rat und begab sich auf die für Befragte vorgesehene Stelle, einen kleinen, durch anthrazitfarbenes Metall hervorgehobenen Kreis im exakten Mittelpunkt des über ihr verharrenden Ratspodiums.
Dort wurde sie durchdringend von den auf sie herabsehenden Reichsräten gemustert. Alle, bis auf Holmbrok, wirkten reichlich verschlafen. Ralissan bemerkte sofort, dass sie dieser ganzen Prozedur, die wohl ihre Nachtruhe gestört hatte, nicht gerade sonderlich viel abgewinnen konnten.
Zugleich fühlte sie hier extrem deutlich ihre wütende Abneigung, die sich eindeutig gegen den Grund dieser Belästigung richtete. Deshalb blendete Nolder sie, mitsamt ihrer unwürdigen Gemütszustände, einfach aus und erwartete gelassen die Ermittlung. In diesem Moment begann Deggard, der einstimmig gewählte Vorsitzende, mit seiner Einführung.
»Hohe Damen und Herren Räte, Sie wurden alle schon informiert, warum wir uns heute, zu dieser gottlosen Stunde, treffen mussten. Dies ist Ralissan Nolder – meine fähigste Alphabegabte, wie Sie ja inzwischen wissen. Sie hat den Eindringling aufgespürt und mich umgehend gewarnt. Bitte, beginnen sie, verehrtes Kollegium.«
Was für eine Warnung denn?, dachte die Erwähnte erzürnt.
Dabei erinnerte sie sich gleich wieder an das zunächst warme, angenehme Gefühlsmuster des Besuchers, das so gar nicht bedrohlich gewirkt hatte. Ganz im Gegensatz zu einigen ihrer eigenen Rasse.
Vor allem eure lassen mich schaudern, kam es ihr ungewollt in den Sinn.
Dann fingen die Hohen Räte wissbegierig mit der Arbeit an, ihre vorher teilweise ausgesprochen heftig empfundene Müdigkeit und den Zorn auf die Alpha schnell vergessend. Ausschließlich die mögliche Bedrohung, des ihnen von Gott gewährten Einflussbereichs und ihrer unbegrenzten Macht darin, waren jetzt von Interesse.
»Sie haben wirklich nur ein einzelnes Muster gespürt? Es liegt aber hoffentlich, was Marandeus verhüten möge, keine planetenweite Invasion vor?«
»Bloß dieses eine, das ich durch Zufall wahrgenommen habe. Ein wirklich massenhafter Einfall wäre uns, den Ratsdienern des Psychors, keinesfalls entgangen.«
Ab diesem Augenblick musste sie enorm aufpassen und sich mental um einiges besser schützen, als sie es sowieso ständig tat. Weil ihre Aussagen mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem anderen Alpha überprüft wurden.
»Welche Gefahr geht von diesem Wesen aus? Hm, außer der Offensichtlichen. Was haben Sie gespürt, um dermaßen besorgt zu sein?«
Ralissan überlegte kurz, wie sie das diesmal beantworten sollte, ohne ihren Vorgesetzten respektlos auf die Füße zu treten.
Deswegen versuchte sie es mit der abgemilderten Wahrheit und sagte: »Eine direkte Bedrohung habe ich nicht erkannt. Mein Kontakt war zu kurz … Grundsätzlich erschien es nicht aggressiv.«
»Es ist friedfertig? Das kann ich kaum glauben. Ist diese Kreatur nicht eher ein feindlicher Spion?«
Die Fragestellerin blickte verwundert zuerst auf die Psybegabte, danach zu Holmbrok. Sie wollte oder konnte die gerade gehörte Meldung so nicht hinnehmen. Es passte einfach nicht in ihr bevorzugtes Konzept vom Leben, in dem ein Eindringling gefälligst böse zu sein hatte, um seine sofortige Vernichtung zu rechtfertigen.
Obwohl Ralissan endlich begriff, worauf das Ganze eigentlich hinauslief, startete sie zuversichtlich einen letzten Versuch, den drohenden, auf der Stelle vollstreckbaren, Exekutionsbefehl ein Weilchen aufzuschieben.
»Dies war zumindest mein erster Eindruck. Über seine genauen Motive kann ich hingegen erst berichten, wenn der Außerirdische gefasst wird und ich ihn persönlich verhöre. Nach einer umfassenden Untersuchung stünde uns – der Menschheit – ebenfalls sein komplettes, eventuell sehr aufschlussreiches Wissen zur Verfügung«, entgegnete Nolder daher zuversichtlich und erwartete ihr Umdenken.
Die Räte würden dies bereits gefällte Urteil sicherlich etwas abmildern, wenn sie sich auch weiterhin der Situation gewachsen fühlten und ihre uneingeschränkte Kontrolle über den gesamten Vorgang behielten. Vor allem die zugesagten lohnenden Erkenntnisse müssten sie überzeugen.
»Erinnern sie sich vielleicht, in welchem Sektor sie das Ding gefunden haben? Oder könnte es sich überall auf der Erde befinden?«
Sogar das kann ich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, sondern muss schlicht vermuten, wo sich sein derzeitiger Standort befindet, formulierte sie umsichtig im Geist.
Genau im selben Atemzug gab sie diesen, für die Psyprotokolle gedachten Gedanken frei. Schlicht, um sich ein wenig abzusichern.
Gleichzeitig sagte sie laut: »Ich habe sein Bewusstsein in der Innenstadt entdeckt. Der Fremde hält sich wahrscheinlich dort auf.«
»Können genaue Koordinaten an ein Einsatzkommando übermittelt werden, um den Eindringling festzusetzen?«
»Zurzeit nicht … Ich wurde bei meiner Entdeckung überrascht und mir gelang es nicht mehr, seinen genauen Aufenthaltsort zu bestimmen.«
»Hm, werden sie es erneut finden?«
»Dafür brauche ich zunächst eine Psygemeinschaft, die mich bei meiner Suche unterstützt. Alleine ist es für mich nicht zu bewerkstelligen.«
Das war die reine Wahrheit. Immerhin hatte sie es bereits probiert und nichts erreicht.
»Wie ist das Wesen überhaupt auf unsere Heimatwelt gekommen? Es muss ganz sicher ein Raumschiff besitzen. Übrigens, haben Sie vielleicht eine versteckte Angriffsflotte im All aufgespürt?«
Darüber wusste die Beamtin natürlich nichts. Sie war schließlich keine Raumfahrerin oder Technikerin und hatte von diesem ganzen Kram absolut keine Ahnung.
»Dazu kann ich nichts sagen, da sich meine Kräfte grundsätzlich auf Lebewesen im Bereich Thain Marandeus beschränken. Es ist mir nicht möglich, Maschinen aufzufinden oder den Weltraum zu erkunden. Dagegen kann dies die Abteilung für technische Überwachung selbstverständlich untersuchen. Vielleicht finden sie etwas.«
Und so dauerte das Stakkato ihrer Fragerei schlussendlich eine ganze Stunde lang an. Als es glücklicherweise vorbei war, fühlte Ralissan sich total entleert und ihr Kopf schmerzte abermals schrecklich. Gleichwohl war ihr wenigstens eine Gruppe Psybegabter zugesichert worden, die sie möglichst bald bei ihrer Aufgabe unterstützen sollte.
»Der Eindringling muss unbedingt gefasst werden«, instruierte sie Deggard am Ende ihrer Besprechung. »Über die weitere Vorgehensweise werden sie in der nächsten halben Stunde informiert. Halten sie sich bereit.«
Während sie die Versammlungshalle verließ, war sie ziemlich erleichtert, dass zu guter Letzt wenigstens eine Verhaftung befohlen worden war. Andererseits kamen in der Begabten die ersten generellen Zweifel hoch. Sie hätte am besten ihren Mund gehalten, zumal sie den Nichtmenschen am Ende auf jeden Fall töten lassen würden. Davon war sie leider überzeugt.
»Bei Marandeus, du hast gehandelt, wie es deine Pflicht war«, tröstete Nolder sich leise selbst, nachdem sie die Aufzüge erreicht hatte.
Die Ratsdienerin wollte jedenfalls so schnell wie möglich in ihren vertrauten Ruheraum zurück. Wo sie warten und zur Ablenkung immerhin einige Verbrecher überführen konnte.
***
»Komm, setzt dich ruhig«, bot Thalen ihr zuvorkommend an und deutete gleichzeitig auf sein zerfleddertes Bett. »Mach es dir gemütlich.«
Lesandor zog währenddessen seine dicke Jacke aus. Nach einem kurzen Blick zu Arin, die sich mittlerweile in sein weiches Kissen einkuschelte und es sichtlich genoss, zusätzlich noch seinen wärmenden Pullover. Gleich darauf hockte er sich neben sie.
»Seitdem du da bist, ist es ganz schön heiß geworden. Wie machst du das bloß, Arin?«
»Hm, ich weiß es nicht.«
Nach einer Weile präzisierte sie lachend: »Ich bin einfach so!«
Dabei zuckte sie entschuldigend mit den Schultern und grinste ihn wieder an.
»Ich hoffe, dass es dir nicht unangenehm ist?«
»Nein, nein, dieser Winter dauert eh schon viel zu lang und ist unerträglich. Darum ist es wirklich fantastisch. Danke!«
Nachdem die Kleine sich flüchtig in dem mit allerlei Gegenständen vollgestopften Raum umgesehen hatte, räusperte sie sich kurz.
»Weißt du, Lesandor, ich bin überaus interessiert an dir und deiner Welt. Würdest du mir vielleicht ein paar Fragen beantworten?«
Thalen überlegte erst gar nicht lange. Obwohl er selbst außerordentlich gespannt auf Arins Geschichte war. Aber einer musste ja beginnen.
»Ja, selbstverständlich. Was willst du wissen?«
»Hm, woran glaubt ihr denn? Ich meine, begreift ihr eigentlich, wo ihr herkommt?«
Sie suchte angestrengt nach dem richtigen Wort und strich sich derweil über die Nasenspitze. »Ähm, Religion – genau! Wie kannst du mir eure beschreiben?«
Mit diesen Sätzen schnitt sie gerade eins seiner ganz besonderen Lieblingsthemen an.
»Also, da bin ich leider genau der Falsche. Nächste Frage.«
Er lächelte sie freundlich an. Trotzdem blieb ihr Gesichtsausdruck ernst.
Warum muss es ausgerechnet diese Problematik sein, dachte er leicht verärgert.
»Ich weiß ganz genau, dass es einen Grund gegeben hat, dich zu finden. Erzähl mir bitte von eurem Glauben!«
Thalen grübelte geschwind über ihre Worte nach. Sie hatte ihn demnach nicht zufällig aufgesucht. Scheinbar wusste er irgendetwas, das Arin brennend interessierte. Diese finstere Angelegenheit konnte es freilich auf gar keinen Fall sein. Zumindest war er sich da absolut sicher. Er seufzte anfangs flüchtig, gab seinen Widerwillen jedoch schnell auf. Schließlich hatte er es der Kleinen vorhin übermütig zugesichert. Somit blieb ihm wohl nichts mehr anderes übrig. Daher grub Lesandor seine alten Schulweisheiten aus und weihte das Mädchen in die, zumindest für ihn persönlich, höchst suspekten Lehren ihres allmächtigen Gottes ein. An das Meiste erinnerte sich Thalen ohnehin nur bruchstückhaft.
»Weißt du, das Ganze hat schon vor einigen Jahrtausenden angefangen. Damals hat irgendein Erwählter mit Namen Marandeus damit begonnen, überall seinen Eingottglauben zu propagieren. Parallel dazu pries er die Menschheit als einzig wahre Lebensform mit einer Seele und Existenzberechtigung.
Alle anderen Rassen, die hier früher einmal gelebt haben und deren präparierte Knochen du dir heute sogar in Museen ansehen kannst, verdammte er als minderwertig.«
Die Kleine war offensichtlich schockiert.
»Du meinst, sie wurden vernichtet? Allesamt ausgelöscht?«
Lesandor nickte betrübt und erzählte dann weiter. »Genau, es gab seinerzeit – äh, Hunderttausende von erbarmungslosen Heiligen Kriegen. Alles, was anders aussah, selbst eigene Stämme, die einen angeblich falschen Gott bevorzugten, wurden rücksichtslos gejagt und abgeschlachtet.«
Ihm schauderte bei dem Gedanken, was für furchtbare Gräuel zu jener Ära in Marandeus Namen begangen worden waren – und all die unzähligen folgenden Jahrzehnte. Selbst heute.
»Na ja, irgendwann gab es hier ausschließlich Menschen. Die Massaker waren vorerst vorüber. Und bevor der Prophezeite letztlich an Altersschwäche gestorben ist, hat er den Wahren Gläubigen erzählt, dass er selbst dieser eine Gott ist. Dass er sich eben zeitweilig einen menschlichen Körper gegeben hat, um sein Reich von den Unmenschen zu befreien. Auf das sein gesegnetes Volk immerdar glücklich und zufrieden auf dieser, von ihm gesegneten Erde, leben kann. Kurzerhand gab Marandeus die sterbende Hülle auf und seine Göttlichkeit entfleuchte. Damit endet meine grausame Märchenstunde. Danke fürs Zuhören.«
»Und das war seine ganze Lehre? Der Tod …«
Arin wirkte ziemlich überrascht. Sie konnte diese Verachtung aller ungleichen und andersgläubigen Lebewesen schlicht nicht begreifen.
»Och, weißt du, hauptsächlich. In seinen Heiligen Schriften hat er uns natürlich ebenfalls hinterlassen, wie wir unser Leben zu führen haben. Moral, Regeln, Verbote, Verhaltensvorschriften und Rituale. All dies Zeugs eben.«
»Habt ihr gar nichts dazugelernt, als alle eure Geschwister tot waren? Gab es nie einen Protest gegen diese Abscheulichkeiten?«
Thalen wunderte sich ein bisschen über ihre merkwürdige Wortwahl. Er ging trotz allem nicht näher darauf ein. Sie war immerhin eine Außerirdische.
»Im Grunde nicht. Klar, es entstanden schon ein paar ehrenvolle Reformbewegungen, die voller sehr guter Ideen waren. Sie wurden indessen recht schnell und durchaus gewalttätig unterbunden, wie du dir ja inzwischen denken kannst. Tja, Blasphemie … In den Geschichtsbüchern wird außerdem – ganz am Rande – von einigen Aufständen berichtet.«
Arin schüttelte sich und schluckte hart an den von Thalen vorgesetzten Brocken. Anschließend versuchte sie erst einmal, diese Neuigkeiten zu verdauen.
»Was geschah nachher? Als ich hier angekommen bin, habe ich – äh, Raumschiffe gesehen. Ihr reist gleichfalls durch den Kosmos?«
»Oje, das war sozusagen einer der Hauptgründe, warum sich nie großartig etwas geändert hat. Nachdem die Raumfahrt entwickelt wurde, begannen die Wahren Gläubigen umgehend, ihren Radius zu erweitern und es war logischerweise nichts anderes als eine Frage der Zeit, bis die ersten, von uns bewohnbaren, Welten aufgespürt wurden. Auf denen gab es erneut genug heidnische Nichtmenschen.«
»Du meinst, dass sie den Einheimischen ihre Religion aufgezwungen haben?«
Sie wollte sich die Wahrheit nicht eingestehen und sehnte sich weiterhin nach etwas Vernunft.
»Nein, wir – meine Vorfahren, haben sie gleichermaßen gnadenlos ausgerottet, oder es zumindest versucht. Du weißt ja, wir halten uns für das gesegnete Volk. Alles andere ist sowieso ausnahmslos unwürdiger Abschaum.«
Die Kleine starrte ihn fassungslos an. Plötzlich verzweifelte sie unglaublich und überlegte ernsthaft, ob sie echt mehr erfahren wollte. Allerdings entschloss sie sich ihre Unterhaltung fortzusetzen.
Das Mädchen flüsterte deshalb leise: »Etwas dermaßen Furchtbares habe ich niemals zuvor erfahren. Und das ist öfter als einmal geschehen?«
»Äh, ja. Wir haben bereits vor sehr vielen Jahrhunderten einen Planetaren Bund erschaffen, zu dem jetzt sieben Welten gehören. Und wer weiß, wie viele es werden, wenn sich auch künftig nichts ändert.«
Der junge Mann erkannte ihren riesigen Kummer und fühlte sich gleichermaßen elend, wie immer, wenn er über diese verachtenswerte Thematik nachdachte, davon berichtete oder darüber diskutierte.
Fortsetzung folgt …
Copyright © 2008 by Lorens Karaca