Spurlos verschwunden
Sherlock Holmes und Dr. Watson bekommen in der Baker Street 221b unerwartet Besuch von Margery Mapleton, die ein persönliches Anliegen an den berühmtesten Privatdetektiv der Welt hat. Ihre Nichte Fanny Ross, eine junge Gouvernante, ist von einem Mann aus dem Haushalt, in dem sie zuletzt beschäftigt war, geschwängert worden. Eine Hochzeit kam in Anbetracht des Standesunterschiedes nicht infrage, und während der junge Vater des ungeborenen Kindes von seinen Eltern auf eine lange Reise geschickt wurde, wurde Fanny Ross entlassen. Diese hat sich in ihrer Not an eine Frau namens Amelia Dyer gewendet, eine sogenannte Engelmacherin. Diese hat Fanny bei der Niederkunft geholfen und sich bereit erklärt für eine gewisse Summe Geld, das Kind großzuziehen. Obwohl der geforderte Betrag enorm war, hat Fanny eingewilligt. Doch als sie ihren neugeborenen Sohn besuchen wollte, zeigte man ihr ein fremdes Kind. Von ihrem Sohn fehlt bislang jede Spur, und so wandte sich Fanny an ihre Tante Margery, die wiederum Sherlock Holmes jetzt um Beistand bittet. Der übernimmt den Fall ohne zu zögern, sehr zum Erstaunen von Dr. Watson und zum Missfallen von Mrs. Hudson. Doch Holmes ist fest entschlossen, den Machenschaften von Amelia Dyer ein Ende zu bereiten …
Auch in der sechsten Folge der geheimen Fälle des Meisterdetektivs greift der Autor Marc Gruppe ein brisantes Thema auf, das zu der damaligen Zeit zu den größten Missständen Englands und vor allen Dingen Londons zählte. Auffallend dabei ist, dass das Hörspiel, das mit knapp 80 Minuten Laufzeit immerhin fast Spielfilmlänge besitzt, komplett auf Action verzichten kann. Sherlock Holmes löst den Fall in gewohnt souveräner Art und Weise – und mit der tatkräftigen Unterstützung seiner Haushälterin Mrs. Hudson, die in dieser Folge endlich mal aktiver werden darf. Regina Lemnitz verkörpert zwar nicht gerade den fürsorglichen, mütterlichen Typ, wie ihn Rosalie Williams in der Fernsehserie mit Jeremy Brett darstellte, liefert dafür aber eine durchweg gelungene Neuinterpretation der guten Seele der Baker Street 221b ab. Joachim Tennstedt erweist sich einmal mehr als optimaler Holmes-Sprecher, der die nötige Distinguiertheit mitbringt. Ärgerlich ist dagegen der Part von Dr. Watson, der von Detlef Bierstedt dieses Mal leider sehr affektiert und aufgesetzt gespielt wird. Außer sich künstlich über Holmes’ Äußerungen und Vorgehensweisen zu mokieren, trägt er überdies kaum etwas zur Lösung des Falles bei, ist also wieder mal Mitläufer und Gesprächspartner, damit Holmes keine langen Monologe führen muss. Die Geschichte selbst ist sehr bitter und mehr ein historisches Drama als ein Krimi. Auffallend ist auch, dass der Täter, beziehungsweise die Täterin in diesem Fall, von Anfang an bekannt ist. Solche Storys hat allerdings auch schon Sir Arthur Conan Doyle verfasst, was Der Fall Milverton belegt, um nur ein Beispiel zu nennen. Wie bei den meisten Produktionen des Labels so sorgen die Geräusche in erster Linie für ein authentisches Klangbild des Settings, soll heißen, dass die Geschichte mit den typischen Klängen der damaligen Zeit unterlegt ist. Das Schlagen von Pferdehufen auf Kopfsteinpflaster, Rasseln und Klappern von Droschken und Kutschen, Stimmengewirr und so weiter. Die Musik begleitet das Geschehen leise im Hintergrund, ohne das Hörspiel sonderlich zu prägen, schließlich wurde auch bei den geheimen Fällen des Meisterdetektivs auf ein Intro oder eine bestimmte Titelmelodie verzichtet. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass außer Mrs. Hudson keine Figuren des Kanons übernommen wurden. Stattdessen hat sich Marc Gruppe eigene Charaktere ausgedacht wie beispielsweise Margery Mapleton. Bekommt es Holmes mit Scotland Yard zu tun, so trifft er nicht auf Lestrade, Jones oder Hopkins, sondern auf Inspektor Abberline, der ja als tatsächliche historische Persönlichkeit bereits an der Aufklärung der Ripper-Morde beteiligt war und seinen Einstand dementsprechend in der ersten Folge gab, Das ist insofern bemerkenswert, da in der Serie von Titania Medien jene Fälle dokumentiert werden, die nicht sofort ans Licht der Öffentlichkeit dringen durften und eben geheim bleiben mussten. Es ist schon auffallend mit welch zuverlässiger Zufälligkeit Inspektor Abberline und Margery Mapleton den Weg von Holmes und Watson nur dann kreuzen, wenn es um brisante und höchst delikate Fälle geht. Bei solchen aber müsste doch wenigstens Holmes’ Bruder Mycroft das eine oder andere Mal in Erscheinung treten. Nichtsdestotrotz macht auch diese Folge enorm viel Spaß, nicht zuletzt wegen des feinsinnigen, britischen Humors.
Die überaus stimmige Titelillustration stammt noch aus der Feder des leider verstorbenen Künstlers Firuz Askin und zeigt den erschreckten Zeitungsjungen, der zu Beginn der Folge Dr. Watson ein Exemplar des Globe verkauft. So bedrohlich der Schatten an der Ziegelsteinmauer also auch wirken mag, er dürfte wohl unserem lieben Herrn Doktor zugehörig sein.
Fazit:
Mehr Drama als Krimi, aber dennoch eine hörenswerte und überaus spannend inszenierte Produktion, bei der lediglich der aufgesetzt wirkende Dr. Watson stört. Ein brisantes Thema wurde hier frei von Action, dafür aber äußerst atmosphärisch umgesetzt.
Copyright © 2013 by Florian Hilleberg
Marc Gruppe
Sherlock Holmes – Die geheimen
Fälle des Meisterdetektivs, Folge 6
Spurlos verschwunden
Titania Medien, Leverkusen
November 2012
Audio-CD, Krimi
13 Tracks, 78 Minuten, 8,95 Euro
ISBN: 9783785747216
Titelillustration von Firuz Askin